Nach der Amygdala-Hypothese werden Multisystem-Erkrankungen wie EHS und MCS durch sich verstetigte Fehlfunktionen im Limbischen System erklärt, einem komplexen Nervennetz, das in jenen Teilen des Gehirns zu finden ist, die für Instinkte und Stimmungen zuständig sind – die Hauptrolle spielt demnach eine Hirnstruktur, die man „Amygdala“ nennt.  Die Amygdala (der Mandelkern) ist eines der evolutionär ältesten Areale des Gehirns und spielt eine zentrale Rolle bei der emotionalen Bewertung und Reaktion auf äußere und innere Reize. Sie ist ein Teil des Limbischen Systems, das mit allen Sinneswahrnehmungen und deren Verarbeitung beteiligt und mit den zerebralen Regionen vernetzt ist; außerdem verfügt die komplexe Steuerung über hemmende oder aktivierende Feedback-Mechanismen. Nicht alle „Nachrichten“ erreichen ungefiltert das Bewusstsein, sondern werden zunächst mit persönlichen Erfahrungen und evolutionären Prägungen abgeglichen.

Amygdala-Hypothese
Amygdala-Hypothese

Der Thalamus

Der Thalamus bildet den größten Teil des Zwischenhirns und hat bei der Signalverarbeitung die Aufgabe, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Ein überschwelliger Reiz wird bewusst wahrgenommen und entsprechend beantwortet. Unterschwellige Reize entziehen sich der bewussten Wahrnehmung, führen aber dennoch zu einer vegetativen Reaktion. Die Amygdala hat unter anderem die Funktion, uns vor Gefahren zu warnen und die entsprechenden vegetativen Reaktionen zu steuern. Eine Sinneswahrnehmung, die Gefahr signalisiert, stimuliert die Amygdala und versetzt den gesamten Organismus in Alarmbereitschaft (s.u.). Wenn das cerebrale Feedback jedoch Entwarnung gibt, wird die Amygdala wieder heruntergeregelt und damit die Alarmreaktion des Körpers gestoppt.

Beispiel

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Sehen wir auf dem Weg vor uns einen Stock, der aussieht wie eine Schlange, warnt uns die Amygdala: “Da ist eine Schlange – Fliehe!” Das löst eine Schreckreaktion mit Anspannung und erhöhter Aufmerksamkeit aus. Wenn wir dann aber genauer hinsehen, erkennen wir den Stock und beruhigen uns wieder. Die Amygdala bekommt die Rückmeldung, dass dort lediglich ein Stock liegt und keine Gefahr droht. Die Regulation funktioniert. Stuft das Gehirn die Gefahr jedoch als real ein, werden alle Körperfunktionen auf Flucht- oder Kampfbereitschaft ausgelegt.

Sympathikus und Parasympathikus

Dopamin und Noradrenalin sind die wesentlichen Botenstoffe des vegetativen Nervensystems. Der Blutdruck und die Herz- und Atemfrequenz steigen, Energiereserven werden mobilisiert und den Muskeln und dem Gehirn zur Verfügung gestellt. Wir sind also in der Lage zu fliehen oder zu kämpfen. Auf der anderen Seite werden alle nicht zu diesem Zweck benötigten Funktionen herunter geregelt. Dazu zählen u.a. die Verdauung oder das Immunsystem. Eine solche Reaktion wird über ein Nervensystem vermittelt, das als Sympathikus bezeichnet wird. Der neuronale Gegenspieler des Sympathikus heißt Parasympathikus und dient der Regeneration des Körpers und dem Aufbau von Energiereserven. Unter dem Einfluss des Parasympathikus sind alle Verdauungsdrüsen aktiv, Glykogenspeicher der Muskeln und der Leber werden gefüllt, Proteine werden aufgebaut, die Herz- und Atemfrequenz sinkt, etc.

Der Thalamus wird auch als “das Tor zum Bewusstsein” bezeichnet. Er filtert ankommende sensorische Informationen und “entscheidet”, welche Informationen wichtig sind und an das Großhirn weitergeleitet werden. Je nachdem, welche Areale des Thalamus “durchlässiger” sind, gelangen zugeordnete Informationen, z.B. akustisch oder optisch, verstärkt in die bewusste Wahrnehmung. Im Unterschied zur angeborenen Hochsensitivität beruht unsere Hypothese auf der Grundlage, dass es sich um eine erworbene, durch äußere und innere Faktoren induzierte Störung handelt. Ihr Ursprung liegt nicht in einem primär vermehrten Anfluten thalamischer Informationen, sondern in der sich nicht deckenden Reizantwort des Limbischen Systems.

Vegetative Erschöpfung

Die Amygdala-Hypothese geht davon aus, dass der Mandelkern seine natürliche Regulation weitgehend verloren hat und damit die oben beschriebene Alarmkaskade ungefiltert auslöst. Dabei handelt es sich nicht um einen bewussten oder willentlichen Prozess, sondern um eine unwillkürliche Verselbständigung und Fehlsteuerung eines neuronalen Regelkreises. Das Zusammenwirken endogener und exogener Stressfaktoren bewirkt eine anhaltende Stimulation der Amygdala. Das Resultat ist eine vermehrte Dopamin- und Noradrenalin-Ausschüttung und eine konstant hohe Sympathikusaktivität. Je intensiver diese Stimulation ist und je länger sie andauert, desto mehr Energie wird verbraucht und desto weniger Regeneration findet statt.

Der Parasympathikus wird durch Noradrenalin gehemmt, was das natürliche Gleichgewicht zwischen Energieverbrauch und Regeneration stört. Wir sprechen von “vegetativer Erschöpfung oder parasympathischer Depression”. Cortisol und andere Hormone sowie Neurotransmitter, die bei Stress ausgeschüttet werden, fördern zudem die Bildung freier Radikale. Die antioxidativen Kapazitäten werden hochgradig überlastet, die Entgiftungsfunktionen gestört und somit zusätzlicher oxidativer Stress verursacht. Regenerative Transmitter wie Melatonin werden nicht mehr in ausreichender Konzentration ausgeschüttet. Die Amygdala bekommt in dieser Erregungssituation nur wenig hemmende Impulse. Sie differenziert nicht mehr klar zwischen bedrohlichen und harmlosen Reizen, was zu einer erhöhten Wachsamkeit und durch Thalamus-Aktivierung in der Folge zu noch mehr Sinneseindrücken führt. Die Amygdala wird dadurch sensibilisiert. Ihre Reizschwelle sinkt, sodass immer geringere Reize ausreichen, um ihre Alarmkaskade auszulösen. Der Teufelskreis schließt sich.

Der Teufelskreis

Die durch die Übererregung des Gehirns verursachten körperlichen Beschwerden sind vielfältig und zunächst unspezifisch. Sie entstehen einerseits durch die oben beschriebenen Effekte des Sympathikus und andererseits durch Erschöpfung der Energiereserven. Dazu zählen: Schwindel, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche, Tinnitus, Bauchschmerzen, Durchfall, Gelenkschmerzen, Muskelschwäche und Herzrasen.
Das im Stress herunter geregelte und durch Energiemangel geschwächte Immunsystem begünstigt hartnäckige und schwer ausheilende Infekte. Die psychischen Folgen dieses Ungleichgewichtes sind Erschöpfung, depressive Stimmungen, Reizbarkeit, Ängste oder Panikattacken. In dieser Phase der Erkrankung steigt die Empfindlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen weiter. Nach Telefonaten mit dem Handy oder dem Schnurlos-Telefon können Kopfschmerzen oder ein Schwirren im Kopf auftreten. Der nächtliche Schlaf wird mit dem Gefühl unterbrochen, unter Strom zu stehen. Die Schlafstörungen, Abgeschlagenheit und Reizbarkeit nehmen zu. Betroffene stellen meist erst jetzt erstmalig einen direkten Zusammenhang zwischen Exposition und ihren Beschwerden her.
Sie versuchen zunächst die verursachenden Auslöser zu meiden, was oft kurzfristig Linderung verschafft. In der Folge tritt das Symptom aber auch in anderen Situationen auf, z.B. beim Vorbeigehen an einem WLAN-Router oder an einem Stromkasten.
Wie lange eine Sensibilisierung eines Patienten dauert und wie sie verläuft, hängt von der Intensität der auf ihn wirkenden Umweltfaktoren ab. Aber auch von den individuellen Ressourcen seiner Kompensationsfähigkeit, die je nach den Schwachstellen des Organismus reagieren. Welche äußeren Faktoren die Beschwerden verursachen, ist individuell sehr verschieden.

Innere und äußere Faktoren

Wenn innere und äußere Stressfaktoren zusammenwirken, bringen sie einen Organismus derartig aus dem Gleichgewicht, dass eine Hypersensibilisierung die Folge ist. Wie bei vielen komplexen Erkrankungen sind die Ursachen von vielen Faktoren abhängig. Die Grundlage der Krankheitsentstehung stellt jedoch der geschwächte Organismus dar. Die nachfolgenden Einflüsse heben dadurch das Erregungslevel des Limbischen Systems und der anderen beteiligten Hirnareale an. Die meisten Umwelteinflüsse werden von uns nicht bewusst, geschweige denn als schädigend wahrgenommen. Bis zu einem gewissen Maß können die Auswirkungen der externen Stressoren kompensiert werden. Doch die Entgiftungsmechanismen, antioxidativen und regenerativen Kapazitäten des Körpers sind begrenzt. Die Dosis und die Kombination macht das Gift. Äußere Einflüsse allein reichen wahrscheinlich nicht aus, um eine Hypersensibilisierung einzuleiten. Es bedarf auch innerer Stressoren, die das Erregungslevel anheben. Die endogenen Stressoren sind vielfältig. Dazu zählen akute und chronische psychische Belastungssituationen, wie Partnerschaftskrisen, familiäre Konfliktsituationen, körperliche Erkrankungen, eine berufliche Überforderung, oder auch Schichtarbeit, Schlafmangel, ein exzessiver Lebensstil.

Amygdala-Hypothese

Andere mögliche Auslöser

Auch vorangegangene depressive Episoden oder andere psychische Erkrankungen können endogene Auslöser sein. Bestimmte bakterielle, parasitäre und virale Infektionen lösen eine immunologische entzündliche Aktivität im Gehirn aus. Es wurden bereits Zusammenhänge mit Depressionen, Psychosen und bipolaren Störungen nachgewiesen. Dazu zählen Parasitosen wie Toxoplasmose, Borreliose oder Infektionen mit Streptokokken, Herpes-, Zytomegalie-, Epstein-Barr- oder Enteroviren. Viele EHS-Patienten berichten von stattgefundenen hartnäckigen Infektionen. Ob diese ursächlich oder ein Resultat der bereits bestehenden Erschöpfung sind, ist nicht sicher zu klären. Eine genetische Prädisposition bzw. eine prädisponierende Konstitution der Patienten sind ebenfalls wahrscheinlich.

Weitere Unverträglichkeiten

Das “EMF-Syndrom” ist nicht die einzige Erkrankung, die mit einer Überaktivität der Amygdala und des Limbischen Systems erklärt werden kann. Die Multiple Chemikalien-Unverträglichkeit (MCS), das chronische Fatigue Syndrom (EM/CFS) und die Fibromyalgie sind verwandte Krankheitsbilder. Auch multiple Nahrungsmittelunverträglichkeiten können auf einer amygdalen Überaktivität beruhen. Es gibt enge Parallelen bezüglich der Auslöser und auch der Behandlung. In manchen Fällen treten sie gleichzeitig auf. Die innere Anspannung wird auch dadurch gefördert, dass EHS-Patienten eine meist längere Phase mit Ungewissheit, Verzweiflung, Angst und Sorgen durchgestanden haben, in der die Hoffnung auf Heilung stetig sinkt. In der Behandlung gilt es auch darum, die „Teufelskreise“ von Gedanken und Gefühlen zu erkennen und zu durchbrechen, damit eine gesunde Regulationsfähigkeit des autonomen Nervensystems möglich wird.