Multisystem-Erkrankungen wie EHS und MCS sind vermutlich durch Fehlfunktionen hauptsächlich im Limbischen System erklärbar, einem komplexen Nervennetz, das in jenen Teilen des Gehirns zu finden ist, die für Instinkte und Stimmungen zuständig sind – die Hauptrolle spielt dabei eine Hirnstruktur, die man „Amygdala“ nennt. Die Amygdala (der Mandelkern) ist eines der evolutionär ältesten Areale des Gehirns und spielt eine zentrale Rolle bei der emotionalen Bewertung und Reaktion auf äußere und innere Reize. Sie ist ein Teil des Limbischen Systems, das mit allen Sinneswahrnehmungen und deren Verarbeitung beteiligt und mit den zerebralen Regionen vernetzt ist; außerdem verfügt die komplexe Steuerung über hemmende oder aktivierende Feedback-Mechanismen. Nicht alle „Nachrichten“ erreichen ungefiltert das Bewusstsein, sondern werden zunächst mit persönlichen Erfahrungen und evolutionären Prägungen abgeglichen.


Der Thalamus
Der Thalamus bildet den größten Teil des Zwischenhirns und hat bei der Signalverarbeitung die Aufgabe, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Ein überschwelliger Reiz wird bewusst wahrgenommen und entsprechend beantwortet. Unterschwellige Reize entziehen sich der bewussten Wahrnehmung, können aber dennoch zu einer vegetativen Reaktion führen. Die Amygdala hat unter anderem die Funktion, uns vor Gefahren zu warnen und die entsprechenden vegetativen Reaktionen zu steuern. Eine Sinneswahrnehmung, die Gefahr signalisiert, stimuliert die Amygdala und versetzt den gesamten Organismus in Alarmbereitschaft (s.u.). Wenn das cerebrale Feedback jedoch Entwarnung gibt, wird die Amygdala wieder heruntergeregelt und damit die Alarmreaktion des Körpers gestoppt.
Der Thalamus wird auch als “das Tor zum Bewusstsein” bezeichnet. Er filtert ankommende sensorische Informationen und “entscheidet”, welche Informationen wichtig sind und an das Großhirn weitergeleitet werden. Je nachdem, welche Areale des Thalamus “durchlässiger” sind, gelangen zugeordnete Informationen, z.B. akustisch oder optisch, verstärkt in die bewusste Wahrnehmung. Im Unterschied zur angeborenen Hochsensitivität beruht unsere Hypothese auf der Grundlage, dass es sich um eine erworbene, durch äußere und innere Faktoren induzierte Störung handelt. Ihr Ursprung liegt nicht in einem primär vermehrten Anfluten thalamischer Informationen, sondern in der sich nicht deckenden Reizantwort des Limbischen Systems.
Vegetative Erschöpfung
Wir nehmen an, dass die Amygdala ihre natürliche Regulation verliert und die dabei oben beschriebene Alarmkaskade ungefiltert auslöst. Dabei handelt es sich nicht um einen bewussten oder willentlichen Prozess, sondern um eine unwillkürliche Verselbständigung und Fehlsteuerung eines neuronalen Regelkreises. Das Zusammenwirken endogener und exogener Stressfaktoren bewirkt eine anhaltende Stimulation der Amygdala. Das Resultat ist eine vermehrte Dopamin- und Noradrenalin-Ausschüttung und eine konstant hohe Sympathikusaktivität. Je intensiver diese Stimulation ist und je länger sie andauert, desto mehr Energie wird verbraucht und desto weniger Regeneration findet statt.
Der Parasympathikus wird durch Noradrenalin gehemmt, was das natürliche Gleichgewicht zwischen Energieverbrauch und Regeneration stört. Wir sprechen von “vegetativer Erschöpfung oder parasympathischer Depression”. Cortisol und andere Hormone sowie Neurotransmitter, die bei Stress ausgeschüttet werden, fördern zudem die Bildung freier Radikale. Die antioxidativen Kapazitäten werden hochgradig überlastet, die Entgiftungsfunktionen gestört und somit zusätzlicher oxidativer Stress verursacht. Regenerative Transmitter wie Melatonin werden nicht mehr in ausreichender Konzentration ausgeschüttet. Die Amygdala bekommt in dieser Erregungssituation nur wenig hemmende Impulse. Sie differenziert nicht mehr klar zwischen bedrohlichen und harmlosen Reizen, was zu einer erhöhten Wachsamkeit und durch Thalamus-Aktivierung in der Folge zu noch mehr Sinneseindrücken führt. Die Amygdala wird dadurch sensibilisiert. Ihre Reizschwelle sinkt, sodass immer geringere Reize ausreichen, um ihre Alarmkaskade auszulösen. Der Teufelskreis schließt sich.

Innere und äußere Faktoren
Wenn innere und äußere Stressfaktoren zusammenwirken, bringen sie einen Organismus derartig aus dem Gleichgewicht, dass eine Hypersensibilisierung die Folge ist. Wie bei vielen komplexen Erkrankungen sind die Ursachen von vielen Faktoren abhängig. Die Grundlage der Krankheitsentstehung stellt jedoch der geschwächte Organismus dar. Die nachfolgenden Einflüsse heben dadurch das Erregungslevel des Limbischen Systems und der anderen beteiligten Hirnareale an. Die meisten Umwelteinflüsse werden von uns nicht bewusst, geschweige denn als schädigend wahrgenommen. Bis zu einem gewissen Maß können die Auswirkungen der externen Stressoren kompensiert werden. Doch die Entgiftungsmechanismen, antioxidativen und regenerativen Kapazitäten des Körpers sind begrenzt. Die Dosis und die Kombination macht das Gift. Äußere Einflüsse allein reichen wahrscheinlich nicht aus, um eine Hypersensibilisierung einzuleiten. Es bedarf auch innerer Stressoren, die das Erregungslevel anheben. Die endogenen Stressoren sind vielfältig. Dazu zählen akute und chronische psychische Belastungssituationen, wie Partnerschaftskrisen, familiäre Konfliktsituationen, körperliche Erkrankungen, eine berufliche Überforderung, oder auch Schichtarbeit, Schlafmangel, ein exzessiver Lebensstil.
